Bogenlatein oder wirklich wahr?

Udo, der Verstrickte

Unter Bogensportbegeisterten wird gerne und viel über Schießtechnik und Equipment philosophiert. Leider des Öfteren auch steile Thesen aufgestellt oder bestimmte Themen aus dem Zusammenhang gerissen. Nichts gegen gepflegtes Bogenlatein. Das macht mitunter sehr viel Spaß und gehört irgendwie zum Bogenschießen dazu. Jeder teilt gerne seine persönlichen Erfahrungen.

Für Einsteiger und auch fortgeschrittene Schützinnen und Schützen ist es jedoch manchmal verwirrend aus all den vielen Informationen und unterhaltsamen Geschichten herauszufiltern, was nützlich, was eher eine nette Anekdote und was auch totaler „Kappes“ ist.

Daher habe ich mich gefragt:

Was sind eigentlich wesentliche Prinzipien oder Themengebiete unseres Sportes, aus denen heraus sich viele Fragestellungen beantworten lassen können, ohne einer bestimmten Lehrmeinung folgen zu müssen?

Interessiert?

Fachgebiete des Bogenschießens

Schaut man sich die ernstzunehmende Literatur zum Bogensport an (z.B. Oliver Haidn, KiSik Lee, Urte Paulsen), so findet man viele Themengebiete und noch mehr Details, die alle dazu beitragen, den Pfeil wiederholbar ins Gold zu bekommen. Dabei scheinen sich die Autoren in manchen Themen einig zu sein, in anderen legen sie individuelle Schwerpunkte.

Nähert man sich dem Bogenschießen einmal neutral „von Außen“ und schaut, welche wissenschaftlichen Fachgebiete berücksichtigt werden sollten, um etwaige Prinzipien identifizieren zu können, so lassen sich drei erkennen:

  • Die Physik von Pfeil und Bogen.
  • Die Medizin bzw. Humanbiologie, im Speziellen die Anatomie.
  • Die (Sport-) Psychologie in Bezug auf die mentale Verfassung.

Physik von Pfeil und Bogen

Ballistische Kurve

Beim Bogenschießen geht es, den meditativen Aspekt einmal außer acht gelassen, darum, einen Pfeil mit ausreichend Energie ins Ziel zu bringen.

Pfeilflug

Auf der Erde gibt es die Gravitation und den Luftwiderstand, die auf den Pfeilflug einwirken. Die Gravitation lenkt den Pfeil aus seiner Flugbahn. Je weiter der Pfeil fliegen muss, desto grösser ist der Einfluss. Dieses Phänomen lässt sich mit der sogenannten „ballistischen Kurve“ beschreiben.

Bei der Berechnung der ballistischen Kurve geht man jedoch von einer „punktförmigen Masse“ aus. Der Pfeil ist jedoch keine solche. Je nach Spitzengewicht, Befiederung und Schafteigenschaften verändern sich die aerodynamischen Eigenschaften des Pfeils. Damit wäre bereits das zweite Prinzip gefunden.

Luftwiderstand

Des weiteren wird der Pfeilflug durch den Luftwiderstand gebremst. Dies hat zur Folge, das die kinetische Energie im Pfeil weniger wird (Ekin = Pfeilgewicht/2 * Geschwindigkeit²). Der Pfeil verliert an Geschwindigkeit. Will man also den Pfeil mit ausreichend Energie ins Ziel bringen, muss die Abschussenergie (Ekin0) entsprechend höher sein.

Bogen

Damit kommen wir zum Bogen. Die Energie, die beim Ziehen in den Bogen gegeben wird, lässt sich mit der Zugkraft auf den Fingern und dem Weg der Sehne von der Standhöhe bis zum Vollauszug bestimmen
(Epot = Kraft x Weg). Bei einem theoretisch idealen Bogen wäre damit nach dem Energieerhaltungssatz: Epot = – Ekin0 .

Allerdings hat jeder Bogen bauartbedingt einen so genannten Wirkungsgrad. Das bedeutet, nicht die gesamte Energie, die zum Spannen des Bogens aufgebracht wird, überträgt sich auf den Pfeil
(Ekin0 = – WirkungsgradBogen * Epot).

Soweit so gut. Hierbei gibt es noch eine wichtige Rahmenbedingung. Bei dieser Betrachtung wird davon ausgegangen, dass die eingeleitete Kraft in einer Linie mit der Pfeilflugrichtung ist. In der Praxis liegt der Pfeil jedoch nicht in der geometrischen Mitte des Bogens (Drehpunkt), sondern oberhalb davon.

Beim „Abgreifen“ kommt noch hinzu, dass die Zughand unterhalb des Pfeils liegt. Dieser Asymmetrie wird versucht, durch unterschiedliche Wurfarmmaterialien und den einzustellenden Tiller entgegenzuwirken, was sich jedoch wiederum negativ auf den Wirkungsgrad des Bogens auswirken kann.

Bogensachkunde

Handhabung

Dem Gedanken der Zugkraft und deren Kraftlinie folgend muss die Schützin die Zugkraft in einer Linie mit dem gewünschten Pfeilflug aufbringen, um genau das Ziel zu treffen. Dabei gilt es zu beachten, dass mit der gleichen Kraft, mit der die Sehne gezogen wird, auch gegen den Bogen gedrückt werden muss, um ein Spannen des Bogens zu ermöglichen („Vorne drücken, hinten ziehen“).

Ideal wäre, wenn Zug und Druck auf einer Linie verlaufen würde, da sonst zusätzliche Kräfte aufgebracht werden müssten, um den Bogen in seiner Position zu halten. In der Realität ist diese Forderung jedoch nur näherungsweise zu erfüllen, da der Bogenarm in der idealen Linie stehen müsste. Um die seitlichen Kräfte so gering wie möglich zu halten, empfiehlt es sich folglich, die beiden Kraftlinien so nah wie möglich zusammen zu bringen.

Wir sprechen also von einem Kraftdreieck. Hierbei liegen Pfeil, Zughand und Zugunterarm auf einer Linie. Die Gegenkraft (Druck) wird durch eine Grade von vier Gelenken gebildet: Beide Schultern, Ellenbogen und Handgelenk des Bogenarms.

Kraftdreieck
Zug- und Bogenarm in der Seitenansicht

Auch von der Seite gesehen wäre es sinnvoll, wenn die Zug- und Druckkräfte auf einer Linie liegen würden, siehe oben. Entscheidend hier ist jedoch, dass die Kraftlinien der Zug- und Druckkräfte jeweils gerade verlaufen.

Soweit die Schnittstelle zwischen Bogen (Physik) und Schützin (Anatomie).

Damit ergeben sich aus der Physik die folgenden grundlegenden Prinzipien:

  • Ballistische Kurve durch die Gravitation
  • Flugeigenschaften durch die Aerodynamik des Pfeils
  • Geschwindigkeitsverluste durch Luftwiderstand
  • Wirkungsgrad des Bogens
  • Zugkraft, Auszugslänge
  • Kraftlinien und Kraftdreieck

Selbst wenn man die Verluste durch Luftwiderstand und Wirkungsgrad des Bogens einmal außer Acht lässt, wird bei dieser Auflistung deutlich, dass man bei fundierten Gesprächen über das Bogenschiesse einiges an theoretischen Grundlagen der Physik mitbringen sollte.

Anatomie des menschlichen Körpers

Die menschliche Anatomie im Einzelnen zu erklären, würde diesen Artikel bei weitem übersteigen. Selbst bei den als relevant für unsere Betrachtung erscheinenden Aspekten kann ich mich nur auf einige Kernaussagen konzentrieren, ohne diese detailliert herzuleiten.

Skelett

Knochen sind die Stütz- und Schutzstrukturen des menschlichen Körpers. Sie sind durch Gelenke miteinander verbunden und werden durch Muskeln gegeneinander oder miteinander bewegt. Die Knochensubstanz besteht aus einer elastischen Grundmasse, in die Kalksalze eingelagert sind. Hierauf beruht die hohe Druck-, Zug- und Biegefestigkeit der Knochen.

Ein Gelenk ist eine bewegliche Verbindung zwischen den Knochen. Die Basis eines Gelenks bilden zwei Knochen, die sich gegenüberstehen. Das Ende des einen Knochen nennt man Gelenkkopf, das Ende des anderen Knochens Gelenkpfanne. Damit verschiedene Bewegungen in verschiedene Richtungen möglich sind, gibt es unterschiedliche Gelenktypen. So ist das Schultergelenk ein Kugelgelenk, das Ellenbogengelenk ein Scharniergelenk und das Handgelenk ein Eigelenk.

Das Schultergelenk (Articulatio glenohumeralis) ist das beweglichste Kugelgelenk im menschlichen Körper. Die hohe Beweglichkeit resultiert aus einer geringen Artikulationsfläche der beteiligten knöchernen Strukturen. Die entstehende Anfälligkeit für Luxationen wird durch einen kräftig ausgeprägten Mantel aus verschiedenen Skelettmuskeln und Bändern (Rotatorenmanschette) ausgeglichen.

Muskulatur

Der Mensch verfügt, je nach Gesundheitszustand, Alter und genetischer Disposition, über etwa 656 Muskeln. Die Muskulatur unterscheidet sich in zwei Muskelarten: die glatte Muskulatur und die quergestreifte Skelettmuskulatur. Die glatten Muskeln steuern die Organaktivität, wie Verdauung und Atmung, und arbeiten in der Regel unbewusst. Die quergestreifte Skelettmuskulatur sorgt für sämtliche Bewegungen, die der Mensch (meist) bewusst ausführt.

Die Skelettmuskulatur kann in verschiedene Gruppen eingeteilt werden. Für diese Betrachtung hier scheinen die folgenden beiden Gruppen hilfreich zu sein:

  • Stabilisatoren: Diese Muskeln sorgen für eine stabile Basis und unterstützen die Ausrichtung der Gelenke. Beispiele sind die Tiefenmuskulatur des Rumpfes (z. B. Multifidus, Transversus abdominis) und die Rotatorenmanschette im Schulterbereich.
  • Feinmotorische Muskeln: Diese kleinen Muskeln sind für präzise Bewegungen verantwortlich. Beispiele sind die Muskeln in den Händen und Fingern.

Eine Muskelkontraktion ist die Aktivierung von spannungserzeugenden Stellen in den Muskelzellen durch Nervenimpulse. Eine Muskelkontraktion kann zu einer Muskelverkürzung (konzentrische Kontraktion) oder zu einer Muskelspannung ohne Veränderung der Muskellänge (isometrische Kontraktion) führen.

Muskelermüdung

Die Skelettmuskulatur kann durch intensive Beanspruchung ermüden. Dies geschieht, wenn die Muskeln mehr Energie verbrauchen, als sie durch die aerobe (mit Sauerstoff) Energiegewinnung bereitstellen können. Zwar lässt sich mit gezieltem Training der Kraftausdauer dieser Ermüdung entgegenwirken, jedoch erscheint es sinnvoll, einen möglichst kraftschonenden, also effizienten Bewegungsablauf zu nutzen.

Wie können diese Elemente nun bestmöglich genutzt werden, um die o.g. Physik des Bogenschießens zu unterstützen?

Relevanz für das Bogenschießen

Bogenschießen ist kein Kraftsport, sondern ein Präzisionssport. Das bedeutet, dass übermäßiger Kraftaufwand und damit Ermüdung der Muskulatur vermieden werden sollte. Stattdessen kommt es auf möglichst präzise wiederholbare Bewegungen an.

Damit sollten die Zug- und Druckkräfte möglichst durch die Knochen und Gelenke des Skeletts aufgefangen werden. Das bedeutet, dass diese so ausgerichtet werden, dass die o.g. Kraftlinien gerade durch die beteiligten Gelenke gehen und die Gelenke so ausgerichtet werden, dass Gelenkkopf und Gelenkpfanne in der optimalen Position sind, so dass die Stabilisatoren die Knochen mit möglichst wenig Aufwand in der Position halten können. Muskeln wie der Quadratus lumborum im unteren Rücken und der Psoas major in der Hüfte beeinflussen die Stabilität und letztendlich die Präzision.

Alle Bewegungen sollten nach Möglichkeit durch die größeren Muskeln wie den Musculus latissimus dorsi (großer Rückenmuskel), der einer der größten Muskeln im menschlichen Körper ist, erfolgen.

Eine bewusste Atmung unterstützt präzise Bewegungen. Die richtige Atmung versorgt die Muskeln mit Sauerstoff und hilft, die Bewegung zu kontrollieren. Langsames Ausatmen während des Schusses macht die Bewegung der Muskeln im Oberkörper gleichmäßig und damit „vorhersehbar“.

Die für die Präzision verantwortlichen Muskeln in den Händen, vornehmlich der Zughand, sollten für das präzise Ankern und Lösen genutzt werden. Als Beispiel hierfür sei das „kraftlose Lösen“ genannt. Während die gesamte Bewegung des Ladens, des Transfers und der Expansion durch die Rückenmuskulatur erfolgt, sollen die Finger der Zughand lediglich die Sehne in Position halten und im Augenblick des Lösens nur entspannen. Das Lösen sollte keine aktive Bewegung sein, sondern lediglich die Sehne freigeben, dass sie ihrer Kraftlinie folgen kann.

Atmen ist wichtig

Damit lassen sich aus der Anatomie die folgenden Prinzipien ableiten:

  • Kräfte sollen durch Knochen und ideale Gelenkstellungen aufgenommen werden. Die Kraftlinien gehen grade durch die entsprechenden Gelenke.
  • Die Stützmuskulatur kann dann mit möglichst wenig Kraftaufwand das gesamte Skelett in der Position halten.
  • Bewegungen erfolgt möglichst über die großen Rumpfmuskeln.
  • Langsames Ausatmen hilft die Bewegung zu kontrollieren.
  • Zum Lösen werden die feinmotorischen Muskeln der Zughand entspannt.

Auch hier zeigt sich, dass zu einer fundierten Diskussion genauere Kenntnisse des menschlichen Bewegungsapparates hilfreich sind. Die Präzision in der Bewegung ist ein komplexes Zusammenspiel aus Kraftaufnahme durch Knochen und Gelenke, Muskelkoordination und Körperhaltung.

(Sport-) Psychologie

Mentaltraining

Sportpsychologie ist ein wissenschaftliches Fach an der Schnittstelle von Psychologie, Sportwissenschaft und Medizin. Sie befasst sich mit der Erforschung und Optimierung der psychischen, psychosomatischen und psychosozialen Bedingungen und Abläufen sowie deren Wirkungen im Sport. Dabei geht es um Themen wie Entwicklung, Motivation und Lernen.

Aus diesem Fachgebiet scheinen fünf Themenfelder für die vorliegende Betrachtung relevant zu sein:

Motivation/Volition: Motivation bezieht sich auf die Menge aller Motive, die zu Handlungsbereitschaft führen, während Volition die Überwindung von inneren und äußeren Widerständen wie Unlustgefühlen oder Ablenkungen durch Willenskraft bei der Umsetzung von Zielen ist.

Propriozeption oder auch Körpergefühl/Körperwahrnehmung: Dies ist die Fähigkeit des Gehirns, die Position des Körpers im Raum zu erkennen. Propriozeptoren wie Muskel- und Sehnenspindeln spielen eine wichtige Rolle. Sie informieren das Gehirn über die Länge und Spannung der Muskeln, was zur präzisen Steuerung der Bewegungen beiträgt.

Bewusstsein und Konzentration: Präzise Bewegungen erfordern mentale Aufmerksamkeit. Indem man sich auf die Bewegung konzentriert und bewusst die richtigen Muskeln aktiviert, kann die Präzision verbessert werden.

Lernen: Lernen ist ein Vorgang einer relativ stabilen Verhaltens- und Denkveränderung, der nicht auf angeborene oder reifebedingte Faktoren zurückgeht. Lerntheorien sind Modelle und Hypothesen, die Lernen psychologisch beschreiben und erklären. Sie können einen allgemeinen Rahmen für die didaktische Konzeption von Trainingsplänen darstellen.

Bewusstsein und Konzentration

Mentaltraining: Mentaltraining hat dabei einen signifikanten Einfluss auf das Gehirn. Es nutzt die Neuroplastizität des Gehirns, also seine Fähigkeit, sich an neue Einflüsse anzupassen und neu zu strukturieren. Durch gezielte Übungen können so verschiedene Kompetenzen erweitert werden, indem das Gehirn vor neue Aufgaben gestellt und angeregt wird, sich auf neue Denkmuster einzulassen.

Ohne hier tiefer in die Themenfelder einzutauchen, was nebenbei gesagt sehr interessant ist, lassen sich aus diesen Themenfeldern die folgenden drei Prinzipien ableiten:

  • Lernen ist auf verschiedenen Wegen möglich, wenn man das will.
  • Das Körpergefühl lässt sich gezielt trainieren
  • Konzentration ist Bestandteil präziser Bewegungen

Resümee

Zurück auf die Ausgangsfrage: Bogenlatein oder wirklich wahr?

Nun, wenn ich mir die einzelnen Fachgebiete oben anschaue und dann so manches gehörte Gespräch reflektiere, können berechtigte Zweifel aufkommen.

Zumindest sollten die diskutierten Thesen in den Gesamtkontext eingeordnet werden, um deren Übertragbarkeit zu überprüfen.

Dazu sollte man sich jedoch tiefer mit den Fachgebieten auskennen, was jedoch ohne gezielte Aus- und Weiterbildung eben auch in der Theorie eher schwierig erscheint. Wenn du an präzisen Bewegungen wie bei unserem Bogenschießen arbeitest, ist es also ratsam, mit einem Fachmann wie z.B. einem qualifizierten Trainer zusammenzuarbeiten.

Stoffel